Die Weltreise meines Gaumens
Solange ich denken kann, hat mein Vater ungern offen über Gefühle gesprochen.
Er ist ein Pragmatiker, ein Macher, der die Dinge angeht, die erledigt werden müssen und das genießt, was er sich erarbeitet hat.
Seine Fürsorge und Zuneigung zeigt er lieber durch selbstgemachtes Essen. In meiner Kindheit, als er als Selbstständiger 14 Stunden am Tag und sechs Tage die Woche arbeitete, bestand er darauf, meiner Schwester und mir jeden Morgen das Frühstück und unsere Pausenbrote zu machen. Und wenn ich heute als Erwachsene meine Eltern besuche, sehe ich, dass er trotz seiner Knieschmerzen stundenlang in der Küche gestanden haben muss, um das koreanische Essen für mich zu kochen. Wenn wir telefonieren, beginnt er jedes Gespräch mit der Frage, ob ich genug esse, und zum Abschied wird er immer sagen, dass ich auf die Gesundheit meines Körpers achten soll.
Der koreanische Gruß „몸 조심해“ (übers.: sei achtsam mit dem Körper) kommt aus der tiefen Überzeugung, dass unsere Fürsorge gegenüber dem eigenen Körper direkt mit der eigenen Gesundheit und mit einem längeren Leben verbunden ist. Frisches, natriumarmes Essen, regelmäßige Bewegung, ritualisierte Ruhe sind alles Maßnahmen für die wir selber sorgen müssen, aber es ist auch schön ab und zu daran erinnert zu werden.
Vermutlich ist diese familiäre Vorprägung der Grund, warum ich heute selbstgekochtes Essen liebe. Bei privaten Partys stehe ich sehr wahrscheinlich am homemade Buffet, genieße den Anblick des Arrangements und überlege mir, in welcher Menüabfolge ich mich durch das Angebot durchschlemmen werde.
Mit 18 arbeitete ich neben der Schule in einer Filiale des größten amerikanischen Bekleidungseinzelhändlers inmitten der Kölner Innenstadt. Im Sinne der Firmenphilosophie war our staff äußerst divers (die Managerebene allerdings nicht mehr) und die Herkunft jedes einzelnen Kollegen wurde wertgeschätzt und zur Erreichbarkeit eines möglichst großen Kundenkreises genutzt. Als ein Mitarbeiter das ganze Team in seine Stadtwohnung einlud, stand sein Esstisch bald voll der mitgebrachten Leckereien. Ich genoss diese Palette an Farben und Gerüchen, jedes Gericht ein Erfolg aus einer anderen Küche, einem anderen Ofen, einer anderen Hand, als eine Kollegin sich zu mir gesellte. Ich erinnere mich noch an ihre porzellanweiße Haut, ihr schwarzes Haar und dass sie zu dem Zeitpunkt sichtbar schwanger war. Wir plauderten darüber, wie ihr Mann und sie gerade Babynamen suchten, „ich finde ‚Osama‘ so schön, das bedeutet Löwe. Aber, naja, ein Mensch hat den Namen mittlerweile für alle verunglimpft. Das möchte ich meinem Kind nicht zumuten.“ Tja, so ein Phänomen gibt es wahrscheinlich in jedem Land.
Sie zeigte auf eine Schüssel, „probier das doch mal“. Ich schaute hinein: ein Geschnippel von dunkelgrünen Blättern mit weißen Punkten und roten Würfeln darin, „iiiuh! Nein, das sieht komisch aus.“ war meine spontane Reaktion und dabei verzog ich das Gesicht. Sie blickte mich an und irgendwie sah sie gekränkt aus. Langsam dämmerte mir, dass sie es wohl war, die die Schüssel mitgebracht hatte. Peinlich berührt fragte ich schnell: „Ist das ein Salat? Was ist da drin?“ An ihren Fingern zählte sie auf: „glatte Petersilie, Minze, Frühlingszwiebeln, Tomaten, Couscous, Zitronensaft, Olivenöl und Salz. Das schmeckt frisch und ist wirklich lecker.“ Also probierte ich es, es schmeckte mir nicht. Ich log sie über meinen Eindruck an und aß mich durch den Rest des Buffets.
Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kann ich kaum nachvollziehen, wie meine Geschmacksnerven Taboulé verschmähen konnten, es ist mittlerweile einer meiner absoluten Lieblingsgerichte. Es musste mir wohl erst ans Herz wachsen… wie Oliven oder Bier.
Taboulé begegnete mir in meinem Leben immer mal wieder und ich erinnere mich gar nicht mehr, ab wann ich damit begann es selber regelmäßig zuzubereiten. Aber ich schmunzele jedes mal wieder über meinen Fauxpas, meine geduldige Kollegin und darüber, dass ich ihr nach einigen Jahren dann doch zustimmen konnte: es ist richtig frisch und wirklich lecker.
Später zog ich für mein Studium nach Hessen. Neue Stadt, neue Leute, neues Leben, ich freute mich auf diesen spannenden Lebensabschnitt. Im Studentenwohnheim war ich für eine Zeit mit einem Mann liiert, der gerne von der gutbürgerlichen Küche seiner Oma schwärmte. Als wir seine Familie auf dem Lande in Norddeutschland besuchten, konnte ich mich selbst davon überzeugen. Tatsächlich, die Bratensoße war reichhaltig und intensiv, das Fleisch so zart und saftig, die Beilagen stammten aus dem heimischen Garten und ihre eingelegten Gurken waren und blieben bis heute die besten, die ich je gegessen habe. Er, mein Freund hingegen hatte eine etwas bescheidenere Art zu kochen. Seine täglichen Mahlzeiten bestanden aus zerkochten Spaghetti, roter Fertigsoße aus dem Glas und einem großen Klumpen Frischkäse, mit dem er das Gemisch „aufpeppte“. Das war seine Routine, jeden Tag, zu jeder Jahreszeit. Dazu lehnte er jedes ihm unbekannte Gericht entweder höflich ab oder kommentierte es mit einem ablehnenden Ausruf. In puncto Essen passten wir nicht allzu gut zusammen.
Natürlich ist es vollkommen legitim, nichts neues für sich probieren zu wollen. Wir wagen, erkunden und experimentieren ja in erster Linie für uns selbst. Wir entscheiden für uns und wir gehen unsere eigenen Schritte. Diese Art von Freiheit und Selbstbestimmung schätze ich. Wenn wir am Ende des Lebens auf den Weg zurückblicken, sollten wir uns ganz in ihm wiedererkennen. Und in meinem Fall sollte er nicht zu monoton sein.
Das ist immer so eine Sache mit Erlebnissen. Wenn wir die Chance für eine potenziell schöne Erinnerung verstreichen lassen, bleibt uns allenfalls das endlose Grübeln darüber. Doch sobald wir die Freude in neuen Erlebnissen bewusst suchen, werden wir definitiv wertvolle Erfahrungen sammeln, im besten Fall sogar solche, die wir gar nicht mehr missen wollen. Und bei einer so unschuldigen Tätigkeit wie Schlemmen sage ich: go for it!
Da ich auf die Global Cuisine überwiegend im Alltag treffe, kennt mein Gaumen schon viel mehr von der Welt als ich.
Wie z.B. das Phở das ich vor 20 Jahren zusammen mit Y bei ihrer vietnamesischen Cousine zu Hause in Rotterdam aß.
Oder das eine Wochenende bei K in Frankfurt, als sie mich mit einer schier endlosen Parade an russischem Essen mästete und wir abends kugelrund auf der Couch fläzten und Wobla snackten.
Das kongolesische Poulet à la Moambé von E, das zum niederknien lecker war,
das kurdischen Dolma mit dem wir Umzugshelfer von J verwöhnt wurden,
das iranische Tahdig von K, das mich hoffnungslos süchtig machte,
das eritreische Injera mit den bunten Stew-Klecksen darauf, das ich versuchte nur mit der rechten Hand zu essen
– und dies alles in Deutschland.
Essen als einen Botschafter der Inklusion zu deklarieren klingt erstmal ziemlich weit hergeholt. Aber ich behaupte, es ist eine wundervolle Art der freundlichen Annäherung. Interaktionen bekommen durch eine gute Mahlzeit etwas herzliches und Begegnungen bleiben viel lebendiger in unserer Erinnerung, wenn wir sie mit unseren Sinneswahrnehmungen einer geteilten Speise verknüpfen.
Zum Zusammenhang zwischen Essen und meiner Inklusion würde ich hier gerne einmal das Scheinwerferlicht auf Kimchi lenken.
Wer es noch nicht wusste: Kimchi ist das Nationalgericht der Koreaner. Es gehört zum gedeckten Familientisch dazu, zu jeder Mahlzeit, ausnahmslos. Die Hauptzutaten sind Chinakohl, Rettich, Knoblauch, Ingwer, Chilipulver und gesalzene Minishrimps. Durch die vielen Zubereitungsschritte und dem anschließenden Fermentierungsvorgang ist die Herstellung langwierig (Fermentierung=Milchsäuregärung, wie bei Sauerkraut). Das Ergebnis ist eine scharfe, knackige, rezente Köstlichkeit, die mit ihrem starken Geruch jeden Kühlschrank kontaminiert. Und für mich ist es absolut unverzichtbar.
Als meine Mutter vor etwa fünf Jahrzehnten als abenteuerlustige, unabhängige Frau auf die andere Seite der Welt und nach Nordrhein-Westfalen zog, wurde sie in ihrer neuen Wahlheimat als absoluter Alien wahrgenommen. Der gesellschaftliche Druck sich zu integrieren war groß, und das betraf auch ihre privaten Essgewohnheiten. Ich weiß noch, dass sie uns oft ermahnte bloß nicht den koreanischen Kühlschrank zu öffnen, wenn wir nicht-koreanische Gäste da hatten, aus Angst wir könnten den gleichen Anfeindungen ausgesetzt werden wie sie damals (Anm.: wir hatten tatsächlich zwei Kühlschränke, einen mit deutschen und einen mit koreanischen Lebensmitteln).
Aber die Welt drehte sich weiter und vor 15 Jahren fingen die Hipster plötzlich an, Kimchi in ihre Fusion Cuisine Burritos zu wrappen oder als Topping zu ihren Bacon Cheese Fries zu essen. Meine deutschen Freunde sprachen Empfehlungen für gute koreanische Restaurants aus, sie fragten mich nach Kimchi Rezepten und auf einmal konnten alle um mich herum mit Stäbchen essen.
Einige Zeit später zog ich mit einem fabelhaften Mann zusammen, der eine ausgeprägte Vorliebe für Schweizer Käse hat. Unsere Lebensmittel im Kühlschrank stanken um die Wette. Wir lachten darüber und ließen es uns nicht nehmen, bei jedem Öffnen der Kühlschranktür über den jeweils anderen theatralisch zu schimpfen. Heute mögen wir beide beides.
Mein Gaumen wird wohl weiterhin viel mehr von der Welt schmecken, als ich jemals reisen kann. Et es wie et es. Aber mein Fernweh wird im Alltag durch die kulinarische Vielfältigkeit der internationalen Restaurants unterhalten, die in meiner Stadt zu finden sind. Ich liebe zwar mein vertrautes Comfort Food, aber ohne meine gelegentlichen Neuentdeckungen würde mir was im Leben fehlen.
Essen ist manchmal mehr als Nahrung, manchmal wird es zum Brückenbauer. Ich weiß es, denn in meinem Leben war es so. Achtet auf die Gesundheit Eures Körpers. Und lasst Euren Gaumen durch die Welt reisen.