Blogeintrag

Ich wünschte ich wäre selbstbewusster

Ja, ich wünschte, ich wäre selbstbewusster. Ich wünsche es mir, wenn ich in den Spiegel gucke und mein erster Impuls ist, Makel zu suchen. Ich wünsche es mir, wenn ich wieder darüber grüble, ob ich jemand anderem gefallen habe, statt zu fragen, ob die andere Person mir überhaupt gefällt. Ich wünsche es mir, wann immer ich bemerke, dass ich meine bisherigen Erfolge klein mache und die viele Arbeit, die dahinter steckt, selbst nicht wertschätze.

Selbstbewusstsein über alles
Mit dem Wunsch, selbstbewusster sein zu wollen, stehe ich aber nicht allein da. Unumstößliches Selbstbewusstsein scheint das neue intrinsische Gimmick zu sein, das jeder Mensch, wenn er etwas auf sich hält, unbedingt haben muss. Gefühlt überall poppen Coaches auf, die einem Reichtum, Zufriedenheit und den richtigen Partner versprechen, indem sie das schädlich selbstkritische Mindset ihrer Klienten ausmerzen würden.
Tatsächlich saß ich auch schon in einem Onlineseminar einer selbsternannten Coachin, die ich bei einem Netzwerktreffen kennengelernt hatte. Sie versprach, dass ich durch Ihre Anleitung leichter Geld vermehren könnte. Ich war neugierig und besuchte den kostenlosen Teaser-Kurs. Neben mir waren fünf weitere Interessenten zugeschaltet, von denen ich glaube, dass mindestens drei von ihnen unterstützende Freunde der Coachin waren. Erst im Laufe der ersten Stunde erfuhr ich, dass sie keine praktischen Tipps zu Geldmonitoring, Anlagen, Steuern, Langzeitstrategien oder ähnlichem geben würde, sondern nur an unserem Mindset arbeiten wolle, das laut ihrer Theorie verhindere, dass wir schnell und vor allem mühelos Geld anhäuften. Weitere Coachingeinheiten, die mich mehrere hundert Euro kosten sollten, habe ich dankend abgelehnt.

Mindset und Selbstbewusstsein sind ein echter Markt geworden. Es wird Geld daraus geschöpft, dass wir unsere Selbstzweifel und Selbstkritik als einen fundamentalen Fehler unserer Persönlichkeit wahrnehmen und entsprechend wegoptimieren sollen. Wie durch einen chirurgischen Eingriff möchte jemand ohne psychotherapeutische Kompetenzen unsere negativen Gefühle entfernen, damit wir für alle Zukunft glücklich, reich und in kürzester Zeit umringt von neuen Beziehungen leben und bewundert werden könnten.
Auch das Impostor Syndrom, oder Hochstaplersyndrom wird allgemeinhin als etwas rein Schlechtes angesehen; es zu fühlen, soll uns beschämen. Impostor Syndrom, also die unbegründete Angst ein Hochstapler zu sein und sehr bald als Betrüger entlarvt zu werden, kennen sicher viele und versuchen es durch den Leitsatz „fake it till you make it!“ zu überschreiben.

Gefühlsdiversität statt Gefühlsfrankenstein
Ich halte das selektive Negieren unserer Gefühle für falsch, wenn nicht sogar schädlich. Selbstzweifel, Selbstkritik, Impostor Syndrom sind schließlich Werkzeuge unseres Gehirns uns selbst zu regulieren, zu reflektieren und uns wahrnehmen zu lassen, wann wir ein Wachstum durchleben. Nur durch konstruktives und ehrliches Hinterfragen unserer Motive können wir doch kluge Entscheidungen treffen, mit dessen Konsequenzen wir kurz oder lang leben möchten.
Voraussetzung für einen solchen Ablauf sollte aber unbedingt sein, dass Zweifel und Kritik auf das Handeln allein gerichtet sind, nicht auf die eigene Person – Stichwort mentale Gesundheit. Vertrauen in meine Fähigkeiten, zusammen mit Mut und Optimismus bewusst in meine Entscheidungen einfließen zu lassen, haben mich immer nachhaltiger zufrieden gemacht und dazu geführt, dass ich meine Schritte im Nachhinein weniger oder gar nicht bereut habe. Bei Entscheidungen hingegen, zu denen mich andere stark beeinflusst haben, knabbere ich teilweise noch Jahre später dran. Und genau aus diesem Grund, weil wir auf unsere Gefühle hören und uns auf unserer Intuition verlassen müssen, ist es nicht ratsam, Gefühle betäuben oder verstummen lassen zu wollen.

Minderwertigkeitskomplexe als Chance?
Leichte Minderwertigkeitskomplexe können ein Motor für ungeahnte Leistungen werden. Nicht umsonst wird Albert Einstein und Maya Angelou nachgesagt, dass sie ihr eigenes Genie anzweifelten. Eine der meistausgezeichneten SchauspielerInnen aller Zeiten, Meryl Streep hat bei ihrer Emmy-Dankesrede als beste Hauptdarstellerin sogar über sich selbst gesagt: „There are some days when I myself think I’m overrated… [but not today!]“ Selbstzweifel sind keine partout negativen Gefühle. Sich beweisen zu wollen, besser werden zu wollen, das eigene Handwerk perfektionieren zu wollen, hat geniale Arbeiten von Menschen hervorgebracht. Es gibt meiner Meinung nach keinen Overachiever, der nicht einer inneren Stimme entgegenarbeitet, die ihn oder sie kleiner machen möchte. Ich behaupte sogar, es gäbe auf der Welt keine herausragenden Bauten, keine berühmten Symphonien, keinen David, wenn ArchitektInnen, KomponistInnen und Michelangelo absolut im Reinen mit sich gewesen wären und regelmäßig gedacht hätten „ich hab jetzt frei, die Arbeit ist gut genug für den Durchschnitt.“ Aber man muss hier differenzieren, denn ich möchte künstlerisches Leiden weder stilisieren, noch romantisieren.
Am Ende haben die Menschen ihre Arbeiten veröffentlicht, weil sie ihren Fähigkeiten vertraut haben.

Selbstbewusstsein und Mental Health
In meinem eigenen Leben habe ich teils traumatische Erfahrungen mit dem Zusammenspiel von Selbstzweifeln, Kritik und Ängsten gemacht, die unwidersprochen als Gedanken in meinem Bewusstsein blieben und das Tor zu negativen Gedankenspiralen und Burnout wurden. Es gab zwei Dinge, die mich aus dem Tief herausholten: das Gefühl von Selbstwirksamkeit und radikale Akzeptanz meiner Selbst und anderer. Ich struggle phasenweise noch immer, aber diese beiden Dinge helfen mir sehr, mich auf mein Handeln zu konzentrieren und dankbar für mein unperfektes Leben zu sein.

Ich kenne eine Frau aus der Boomergeneration, die Ihre Kinder besonders selbstbewusst erziehen wollte. Aus ihrer eigenen Kindheit hatte sich die Wut über die kleinmachende Behandlung der Eltern bei ihr eingebrannt und als Gegenreaktion darauf lobte sie ihre beiden Kinder überschwänglich und oft. Egal wie alltäglich die Tat des Kindes, egal wie banal seine Aussage, egal welches Erlebnis das Kind gemacht hatte, alles war „toll!“, „ganz schlau das Kind!“ oder „die anderen sind alle eifersüchtig auf dich!“ Ich habe beide Kinder als Erwachsene kennengelernt und empfand ihre narzisstischen Ausprägungen als fordernd. Überdurchschnittlich glücklich waren sie dennoch nicht. Die Welt spiegelte ihnen das übersteigerte Selbstbild nicht wider, und sie hatten darüber hinaus Schwierigkeiten damit, PartnerInnen zu finden, die ihnen die gleiche überproportionale Aufmerksamkeit im Alltag schenkten, die sie für sich in Anspruch nahmen.

Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit
Aktuelle Studien zeigen, dass echtes Selbstvertrauen nicht allein durch gutes Zureden entstehen kann. Um sich selbst vertrauen zu können, muss man sich in einem sicheren Kontext als selbstwirksam und gestaltungsmächtig erleben und Kompetenzerfahrungen als Bestätigung dieses Selbstbildes machen. Wenn man sein Selbstbewusstsein boosten möchte, muss man also handeln und im Alltag erfahren, dass das eigene Tun zu den gewünschten Ergebnissen führt.
Tatsächlich habe ich, während ich diese Zeilen schreibe, eine Enge in meiner Brust, weil ich gerade, vor wenigen Minuten eine Jobabsage erhalten habe. Es ist schwer, nicht dem ersten Impulsgedanken zu folgen, „Ich bin nicht gut genug.“ Stattdessen sage ich mir, wie schade es für beide Seiten ist, dass diese Zusammenarbeit nicht zustande kam; es liegt jetzt an mir, beruflich mit anderen Menschen und Unternehmen zusammenzukommen, bei denen beide Seiten glücklich mit dem gemeinsamen Weg sind. Traurig zu sein, erlaube ich mir aber natürlich trotzdem. Zurückweisungen sind immer schwer zu ertragen und unser Maß der Enttäuschung, ist ein direkter Indikator dafür, wie sehr wir uns etwas gewünscht haben.

Selbstbewusst oder grandios?
Es ist lustig. In Wahrheit glaube ich, dass ich sehr selbstbewusst bin. Sogar jetzt, und obwohl ich mir wünsche noch selbstbewusster zu sein, schätze ich mich als resilient und mit einem gesunden Vertrauen in meine Fähigkeiten ein. Der Psychologe Andrew Solomon sagt, dass nicht-depressive Menschen ihre eigenen Leistungen stark überschätzen (während depressive dazu neigen, durchaus realistisch auf das selbst Geleistete zu schauen). Diese Aussage bringt mich zum Schmunzeln, ja, wahrscheinlich stimmt das so. Solange es nur die eigenen Leistungen oder Eigenschaften sind, die man überschätzt und nicht die eigene Person, indem man sein Ego grandios aufbläst, gilt man somit als durchschnittlich und mental gesund. Beruhigend. Und gut für Verbindungen.
Wenn jemand beispielsweise komplizierte Zusammenhänge etwas langsamer versteht als ich, schätze ich die Person dennoch als sehr klug ein. Wenn sich jemand etwas weniger großzügig zeigt als ich, halte ich sie dennoch für gütig. Wenn jemand etwas weniger gelassen ist als ich, empfinde ich ihn oder sie trotzdem als gut gelaunt. Und das liegt daran, dass ich mich nicht an der Grenze zur Dummheit, zum Geiz oder Garstigkeit sehe, sondern als kluge, optimistische Frau mit Freude am Teilen. Sich selbst respektvoll und wohlwollend zu begegnen, macht Beziehungen besser. Ich muss niemanden klein machen, weil mein Selbstbewusstsein nicht klein ist.

Low Self Esteem Days
Low self esteem days habe ich auch, klar. Wenn ich einen habe, merke ich das sofort an meinem Blick auf andere. Ich bin zwar auf der einen Seite oft ignorant gegenüber meiner akuten Serotoninsucht, meiner Insomnie, der Konzentrationsprobleme und meinem Drang nach instant gratification, was alles klare Anzeichen für einen schlechten Tag sind, aber ich werde auf der anderen Seite aufmerksam, sobald ich ungerechtfertigte Wut auf jemand anderen projiziere. Lästern, absurde Schuldzuweisungen, Schadenfreude, stimmungsverdunkelnder Neid, in all diesen Fällen ringen bei mir die Alarmglocken, und ich weiß, dass etwas an meinem Tag gewaltig nicht stimmt. Solche Tiefs habe ich immer mal wieder und ich verstehe sie als Zeichen des Gehirns, dass das Selbst heute vermehrt Zuwendung braucht.
Eigentlich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, wünsche ich mir gar nicht mehr Selbstbewusstsein zu haben. Eigentlich wünsche ich mir nur, dass mein Selbstvertrauen öfter zu Wort kommen darf und mehr Präsenszeit in meinen Gedanken bekommt.

Ich denke mir:
Wenn jeder Mensch in Deutschland in einer täglichen Routine das eigene Selbstbewusstsein trainieren würde, und bewusst über die eigene Selbstwirksamkeit reflektieren und eine kleine, helfende Tat vollbringen würde, mit dem Gedanken, den Lauf der Geschichte ein winziges bisschen positiver verändert zu haben, in welcher Welt würden wir dann wohl in einem Jahr leben – in fünf Jahren, in zehn Jahren?

[Anmrk.: Ich spreche in dem Text von Selbstzweifeln und Selbstkritik in einem Rahmen, die das eigene Handeln, nicht aber die eigene Person in Frage stellen. Bitte nehmt Eure mentale Gesundheit ernst und sucht Euch bei Symptomen von Depression unbedingt Hilfe. Du bist nicht allein!]  

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert